»Samstags gehört Vati mir« – und freitags bald auch?
Löhne sind nicht mehr der stärkste Hebel, um die Mitarbeiter zu halten oder um Talente für das eigene Unternehmen zu gewinnen. Karriereaussichten, Erfolg und Selbstverwirklichung? Mitnichten. Hört man sich in der Wirtschaft um, bevorzugen viele junge Nachwuchskräfte eine Work-Life-Balance, bei welcher die Betonung wohl auf »Life« liegen dürfte. Downshifting, sprich, die Reduktion von Arbeitszeit zugunsten eines selbstbestimmten, erfüllten Lebens, ist ein ausschlaggebendes Kriterium, warum sich Bewerber für ein anderes Unternehmen entscheiden. So ist es nur eine Frage der Zeit, bis die ersten Unternehmen, aus Personalnot getrieben, eine Vier-Tage-Woche einführen werden.
Im weltweit größten Versuch haben 61 britische Unternehmen dieses Modell nun getestet. Das überraschende Ergebnis: Die Mitarbeiter sind ausgeruhter, motivierter und fehlen seltener! Will Stronge hat den Versuch gemeinsam mit Wissenschaftlern von der Universität Cambridge und dem Boston College begleitet. Er ist Direktor des Think-Tanks »Autonomy« und kommt zu dem Schluss: Die meisten Unternehmen konnten die Produktivität steigern oder mindestens halten.
Dass von einem Mehr an Freizeit auch die Wirtschaft profitieren kann, zeigt die Vergangenheit: In der Nachkriegszeit der 50er-Jahre betrug die wöchentliche Arbeitszeit 48 Stunden verteilt auf sechs Tage, im Jahr 1955 lag sie sogar bei 49 Stunden. Im Jahr 1956 forderten die Gewerkschaften einen freien Samstag – mit der Aktion »Samstags gehört Vati mir«. Die Umsetzung kam in den folgenden Jahren, zunächst im Steinkohlebergbau 1959. Aufgrund der so gewonnen Freizeit stieg der Konsum in der Folgezeit an: ein Auto für Wochenendausflüge, Bedarf für Heim und Garten, Freizeitangebote, Sportartikel – die Wirtschaft profitierte vom freien Familienwochenende.
Fragt sich nur: Wie weit kann eine Wirtschaftsnation wie Deutschland im Jahr 2023 an der Arbeitsuhr drehen oder es sich gezwungenermaßen leisten, auf Arbeitszeit – noch dazu in Zeiten von Personalmangel – zu verzichten?
Geht es dem Nachwuchs denn wirklich so gut, dass viele junge Menschen sogar Teilzeitmodelle anstreben, anstatt den Großteil ihrer Zeit im Büro zu verbringen? Ist der Wohlstand so groß, dass das Gehalt zugunsten neuerlangter Flexibilität wohlwollend sinkt? Spontan fällt mir ein Zitat von G. Michael Hopf ein, über welches man dieser Tage des Öfteren stolpert: »Harte Zeiten formen starke Menschen. Starke Menschen schaffen gute Zeiten. Gute Zeiten formen schwache Menschen. Und schwache Menschen schaffen harte Zeiten.«
Oder frei nach Sheikh Mohammed bin Rashid, dem Gründer Dubais:
»Mein Großvater ritt auf einem Kamel, mein Vater tat dasselbe, ich fahre einen Mercedes, mein Sohn fährt einen Land Rover, mein Enkel wird auch einen Land Rover fahren, aber mein Urenkel wird wahrscheinlich wieder auf einem Kamel reiten.«
Alexander Ströhlein
Chefredakteur
Deutsche Molkerei Zeitung