Mythos oder Fakt: Zucker macht süchtig?
Zucker ist ein Streitthema in der Ernährungsdebatte, wie es vermutlich kein Zweites gibt – allenfalls Fleisch wäre auf ähnlichem Niveau. Ein vielfach gebrachtes Argument lautet, dass Zucker süchtig mache. Übergewicht und andere ernährungsmitbedingte Erkrankungen sind das Resultat. Hersteller von Lebensmitteln würden Zucker sogar absichtlich dazu verwenden, um Konsumenten abhängig zu machen und so der Gesundheit des Einzelnen und der gesamten Gesellschaft Schaden zufügen. Ist es tatsächlich so einfach?
Bevor die Frage, ob Zucker süchtig machen könnte, geklärt wird, zunächst einige Basisinformationen über Zucker. Chemisch betrachtet ist Zucker ein Kohlenwasserstoff und kommt in vielerlei Formen vor. Es gibt Einfachzucker, wie Fruktose, Galaktose oder Glukose. Aus diesen Einfachzuckern können sich Zweifachzucker aufbauen, zum Beispiel Sacharose (jeweils ein Molekül Fruktose und Glukose), Laktose (jeweils ein Molekül Galaktose und Glukose) oder Maltose (zwei Moleküle Glukose). Oder es können sich sogenannte Mehrfachzucker bilden, die aus mindestens drei bis Tausenden Molekülen von Einfachzuckern bestehen. Der bekannteste Mehrfachzucker ist wohl Stärke, die aus Tausenden Glukosemolekülen besteht.
Zucker in Form von Glukose ist für den menschlichen Organismus lebenswichtig. Durch den Abbau von Glukose generieren unsere Körperzellen Energie. Zwar kann auch aus dem Abbau von Fett oder Protein Energie gewonnen werden, jedoch ist die Energiebereitstellung in Form von Glukose die schnellste Möglichkeit und für manche Körpergewebe wie das zentrale Nervensystem, rote Blutkörperchen oder das Nierenmark die bevorzugte Form der Energie. Auch Muskelzellen sind bei kurzfristiger und schneller Leistungserbringung auf schnellverfügbare Energiequellen angewiesen, weshalb sie Glukose aus dem Blut einfacher aufnehmen können als andere Körperzellen und sogar über einen eigenen Speicher für Zucker verfügen: Muskelglykogen. Glykogen ist wie die pflanzliche Stärke ein aus Glukose aufgebauter Mehrfachzucker, der außer in den Muskeln nur noch in der Leber vorkommt. Während der Nahrungsaufnahme wird überschüssiger Zucker daher in der Leber und in den Muskeln zwischengespeichert, um ihn zwischen den Mahlzeiten wieder freizusetzen. So wird der Blutzuckerspiegel möglichst stabil gehalten. Die Freisetzung erfolgt dabei aufgrund des Hormons Glukagon, während die Speicherung durch Insulin erfolgt. Beide Hormone werden in der Bauchspeicheldrüse gebildet, wo der Glukosespiegel im Blut permanent gemessen und durch das Wechselspiel von Glukagon und Insulin in einem stabilen Bereich gehalten wird.
Zu viel Zucker gefährdet die Gesundheit
Die Speicher für Zucker in Form von Leber- oder Muskelglykogen sind begrenzt. Eine deutliche höhere Speicherkapazität hat das Fettgewebe. Zucker kann sich durch Verkettung eines Zwischenproduktes des Glukose-Stoffwechsels zu Fettsäuren aufbauen und anschließend in Verbindung mit dem dreiwertigen Alkohol Glyzerin zu Fett umgewandelt werden. Generell findet dieser Prozess in dafür spezialisierten Fettzellen statt, in geringerem Umfang allerdings auch bereits in der Leber, wo der Zucker aus der Nahrung nach der Aufnahme über den Darm als Erstes Station macht. Dies kann bereits bei einer sehr hohen Aufnahme von Fruktose passieren, ohne dass dazu gleichzeitig Übergewicht feststellbar ist. Dies liegt darin begründet, dass Fruktose aus der Nahrung in der Leber zunächst in Glukose umgewandelt wird, da Fruktose selbst nicht verstoffwechselt werden kann. Sowohl die Verfettung der Leber als auch das Fettgewebe können durch hormonelle Aktivitäten Einfluss auf den Energiestoffwechsel des Körpers nehmen und so auch die Nahrungsaufnahme beeinflussen. Grundlegend involviert ist dabei auch das Hormon Insulin, das für die Aufnahme von Glukose in die meisten Körperzellen wie auch der Fettzellen sorgt. Bei permanent erhöhtem Glukosespiegel im Blut, zum Beispiel durch unregelmäßige Mahlzeiten mit hohem Anteil von zugesetztem Zucker, können die Körperzellen eine Resistenz gegen die Insulinwirkung entwickeln, wenn ihr Glukosebedarf gedeckt ist. Fettzellen zeigen diese Reaktion hingegen nicht und nehmen weiter Glukose auf, das sie in Fett umwandeln. Mit steigendem Übergewicht lässt sich bei vielen Betroffenen daher auch eine allgemeine Insulinresistenz feststellen, wobei noch unklar ist, in welchem Maß das Fettgewebe selbst dazu beiträgt. Eine Folge dieser Insulinresistenz ist, dass die Blutzuckerspiegel in den Blutgefäßen dauerhaft erhöht bleiben und so die typischen Schädigungen der Zuckerkrankheit Diabetes mellitus Typ 2 entstehen können. Diese wie auch weitere Erkrankungen treten daher oftmals häufiger in der Kombination mit Übergewicht auf, zum Beispiel Bluthochdruck, Herzkreislauferkrankungen und Krebserkrankungen.
Wer ist der Übeltäter?
Die Suche nach einem Übeltäter für Übergewicht reicht bis in die 1950er-Jahre des letzten Jahrhunderts zurück. Mit der 7-Länder-Studie von Ancel Keys wurden bis in 1980er-Jahre zuerst Cholesterin und tierisches Fett für sämtliche Zivilisationserkrankungen als Übeltäter auserkoren. Mit zunehmendem Erkenntnisgewinn verlor die Fett-Hypothese an Wirkkraft in der Debatte über gesundheitsförderliche Ernährung und der Fokus fiel nach etwas Stillstand auf Zucker. Wie zuvor bei Fett ist die Bildung monokausaler Zusammenhänge zwischen dem Konsum von Zucker und der Entstehung von Zivilisationserkrankungen im Rahmen der gängigen Beobachtungsstudien kaum möglich. Die Anzahl von weiteren Einflussfaktoren wie der körperlichen Aktivität, dem Einkommen, sozialem Status sowie der gesamten Ernährungsweise ist schlichtweg zu groß, um einen dieser Faktoren, ein Lebensmittel oder eine Lebensmittelzutat in einen ursächlichen monokausalen Zusammenhang zu bringen. Doch das hält insbesondere populärwissenschaftliche Publikationen nicht davon ab, genau dies zu tun. Mal werden wissenschaftliche Studien bewusst oder unbewusst überinterpretiert oder Aussagen verkürzt dargestellt. Und Einzelfallberichte oder Eigenerfahrungen werden stark verallgemeinert, was vor allem in den Sozialen Medien passiert. Ein Narrativ hat dabei besonders hohe Überzeugungskraft, da er die Komplexität der Ernährung in Bezug auf das Essverhalten von heiklen Themen wie der Selbstbestimmung, Ernährungsbildung und Ernährungsumgebung entkoppelt: Zucker macht süchtig.
Damit ist nichts anderes gesagt, als dass Konsumenten in einer Art Abhängigkeit gefangen sind, aus der es ohne fremde Hilfe kaum ein Entkommen gibt. Auch sämtliche oben genannten Konsequenzen, die mit einem erhöhten Zuckerkonsum im Zusammenhang stehen können, sind davon betroffen. Mit einem Anteil von über 50 % der deutschen Bevölkerung, der von Übergewicht oder Adipositas betroffen ist, stößt dieser Narrativ auf ein großes Publikum, das von einem hohen Leidensdruck betroffen und damit empfänglich für derart verkürzte Ursachenbeschreibung ist. Und auch weltweit nimmt die Häufigkeit von Übergewicht und Adipositas zu. Ob Zucker süchtig macht und alleinig für die Entwicklung von Übergewicht und Adipositas verantwortlich gemacht werden kann, steht jedoch auf einem anderen Blatt.
Überkonsum und Sucht sind nicht das Gleiche
Eine einfache Analyse der Entwicklung der Kalorienversorgung in Deutschland und dem Anteil, der aus Zucker und anderen Süßungsmitteln stammenden Kalorien, gibt einen ersten Aufschluss darüber, ob Zucker eine dominierende Rolle bei der Entwicklung von Übergewicht darstellen können (Abbildung 1). Seit der Erfassung der Welternährungsorganisation 1961 hat sich die Kalorienversorgung im Jahr 1961 von 2.855 Kilokalorien auf 3.634 Kilokalorien im Jahr 2021 um 27 % erhöht. Die Kalorienversorgung durch Zucker und Süßungsmittel hat für sich genommen mit 36 % von 336 Kilokalorien auf 457 Kilokalorien sogar noch etwas mehr zugenommen. Ausschlaggebend ist jedoch der Anteil der Kalorien aus Zucker und Süßungsmitteln an den Gesamtkalorien, und der lag damals bei 12 % und im Jahr 2021 bei 13 %. Das bedeutet eine minimale relative Steigerung und im Mittel schwankte der Anteil von Zucker und Süßungsmittel an den Gesamtkalorien in Deutschland seit 1961 zwischen 11% und 14 %. Zusätzlich lassen sich bei der Weltgesundheitsorganisation die Daten für die Entwicklung von Adipositas für den Zeitraum zwischen 1975 und 2016 ermitteln und in Bezug mit der Steigerung der der Kalorienversorgung setzen. Daraus ergibt sich sowohl für die Gesamtkalorien als auch die Kalorien aus Zucker ein Zusammenhang (Abbildung 2 und 3): Je mehr Kalorien, desto höher steigt der Anteil der erwachsenen Bevölkerung mit Adipositas – insgesamt hat sich die Rate im angegebenen Zeitraum von 9 % auf 22 % mehr als verdoppelt. Zucker und Süßstoffe können dabei allerdings nur einen Beitrag geleistet haben und nicht etwa alleinige Verursacher sein. Im Sinne einer bevölkerungsweiten Suchtentwicklung für Zucker und Süßstoffe hätte sich der Anteil der Kalorien aus dieser Quelle über die historische Entwicklung ansonsten deutlich erhöhen müssen.
Da Deutschland nicht die Welt ist, lohnt es sich auch noch, den Gesamtkontext zu erfassen, denn auch weltweit steigen die Raten von Adipositas an, von 5 % im Jahr 1975 auf 13 % im Jahr 2016. Setzt man hier wieder die Kalorienversorgung im selben Zeitraum dagegen, ergibt sich eine noch stärkere Korrelation mit den Gesamtkalorien, während sich im Gegensatz zu den Daten aus Deutschland nur noch ein sehr schwacher Zusammenhang zur Kalorienversorgung aus Zucker und Süßungsmitteln ergibt (Abbildung 2 und 3). Dieser erklärt sich auch dadurch, dass der Anteil von Zucker an der weltweiten Kalorienversorgung von 1961 von 9 % auf 8 % im Jahr 2021 abgenommen hat (Abbildung 4). Die Kalorien stammten also zunehmend aus anderen Quellen.
Diese Daten schließen nicht aus, dass einzelne Menschen deutlich höhere Mengen an Zucker und Süßungsmitteln konsumieren und damit einen Kalorienüberschuss erreichen, der zu Übergewicht und Adipositas führt. Doch weder in Deutschland noch weltweit kann von einer populationsweiten Sucht nach Zucker gesprochen werden, allenfalls von einem Überkonsum im Zuge eines insgesamt steigenden Lebensmittel- und Kalorienkonsums. Doch kann der Einzelne nicht dennoch süchtig nach Zucker und anderen süß schmeckenden Lebensmitteln sein?
Sucht nach Lebensmittel oder Inhaltsstoff gibt es nicht
Populärwissenschaftliche Ernährungsratgeber und Schlagzeilen liefern immer wieder Vergleiche, wonach Zucker und Süßungsmittel das menschliche Belohnungszentrum durch Ausschüttung des Botenstoffs Dopamin ähnlich aktivieren können wie harte Drogen. Derartige Befunde stammen aus Hirn-Scans, die jedoch als relativ unspezifisch gelten: So kann auch eine Shopping-Tour oder sogar Meditation das Belohnungszentrum aktivieren. Andere Resultate zur Verhaltenssteuerung durch Konditionierung mit Zucker stammen aus Tierversuchen, deren Ergebnisse für Menschen nicht reproduzierbar sind. Der evolutionsbedingte positive Nutzen des Süßgeschmacks kann dennoch zu unbewusstem Konsum von Zucker beitragen, wenn durch die Ernährungsumgebung eine einfache und ständige Verfügbarkeit ermöglicht wird. Ebenso treten bei Abstinenz von Zucker und Süßungsmitteln körperliche Entwöhnungserscheinungen auf, was allerdings allenfalls Ähnlichkeiten mit Abstinenz von Koffein oder Nikotin aufweist, nicht aber harten Drogen wie Kokain oder Heroin.
Die zu dieser Thematik vorläufig abschließende Bewertung hat das Großprojekt NeuroFAST bereits 2013 veröffentlicht: »Aktuelle Erkenntnisse lassen nicht den Schluss zu, dass eine einzelne Nahrungssubstanz über einen einzelnen spezifischen neurobiologischen Mechanismus (z.B. spezifische Gehirnrezeptoren oder spezifische neuronale Bahnen) dafür verantwortlich sein kann, dass Menschen zu viel essen und Fettleibigkeit entwickeln.« Weiterhin heißt es: »Beim Menschen gibt es keine Hinweise darauf, dass ein bestimmtes Lebensmittel, eine bestimmte Lebensmittelzutat oder ein bestimmter Lebensmittelzusatzstoff eine substanzbasierte Art von Sucht auslöst.« Wie so oft in der Debatte über gesundheitsförderliche Ernährung werden anstatt solcher nüchternen Befunde aus seriösen Studien, einzelne Lebensmittel oder Lebensmittelzutaten stigmatisiert und der Diskurs zu den bestehenden Herausforderungen der Ernährung läuft am eigentlichen Zielkorridor für realistische Lösungsansätze vorbei.
Dr. Malte Rubach,
Ernährungswissenschaftler