Seit 1879 Lebensmittelindustrie und Milchwirtschaft

Milch macht Darmkrebs und warum auch Nobelpreisträger irren können

14. Dezember 2021

Im Februar 2019 war es mal wieder so weit. Durch eine Pressemitteilung und ein paar Medienkaskaden weiter verbreitete sich mit ungewollter Leichtigkeit die Nachricht, dass es nun bewiesen sei: Milch ist krebserregend. In sozialen Medien und dem Berufsnetzwerk LinkedIn überschlugen sich Veganer und diejenigen, die den Veganern vegane Lebensmittel verkaufen, vor lauter Freude über die frohe Botschaft und sahen sich ein weiteres Mal bestätigt. Und dann auch noch von einem Nobelpreisträger.
Wie könnten da noch Fragen offenbleiben?

Der Medizinnobelpreisträger Harald zur Hausen hatte über die Pressestelle des Deutschen Krebsforschungszentrums in Heidelberg mitteilen lassen, dass er dem Beweis für seine Theorie, dass Darmkrebs durch virenähnliche Partikel aus Kuhmilch und Rindfleisch verursacht werde, ein bedeutendes Stück näher gekommen sei. Dazu führte er bereits seit längerer Zeit Assoziationsstudien durch und stellte die Hypothese auf, wonach sich bestimmte Krebserkrankungen dort häufen, wo der Konsum dieser tierischen Lebensmittel vom europäischen Rind (Bos taurus) besonders hoch ist. Dies betrifft mit wenigen Ausnahmen wie Japan, wo Darmkrebs im weltweiten Vergleich recht häufig vorkommt, insbesondere die entwickelten westlichen Industriestaaten. Umgekehrt treten sie seltener dort auf, wo weniger dieser Lebensmittel konsumiert werden. Dieser Logik entsprechend, sah er sich dadurch bestätigt, dass die Darmkrebsraten in Indien und der Mongolei deutlich geringer seien, da die Menschen den Recherchen nach nun einmal weniger Milch von europäischen Milchrassen trinken oder deren Fleisch verzehren. Ähnlich habe es sich auch in Japan verhalten, bis laut zur Hausen verstärkt der Import von europäischem Rindfleisch die Darmkrebsraten steigen ließ.

Angemerkt sei hier, dass der Nobelpreisträger aufgrund dieser Theorie auch in der Kritik seiner eigenen Zunft steht. Und selbst wenn wissenschaftliche Beweisführung manchmal jahrzehntelange Arbeit bedeutet, und zwar gegen alle Zweifler, Neider und  Entscheider, so wurde Harald zur Hausen bereits auf die Probe gestellt, als er gegen viele Zweifler am Ende doch beweisen konnte, dass das Risiko für Gebärmutterhalskrebs neben anderen Faktoren durch eine virale Infektion mit dem HPV-Virus beeinflusst wird, was ihm schließlich später den Nobelpreis einbrachte. Es ist also schon mal ein Pfund, mit dem sich wuchern und die Medien aufhorchen lässt, wenn nun laut des Nobelpreisträgers jeder 10. Krebsfall in Deutschland auf einen Risikoanstieg durch den Verzehr von Rindfleisch und Kuhmilch zurückzuführen sein könnte.

Belege bestätigen die Gegenhypothese

Was die molekulare Pathogenforschung jedoch gelegentlich vernachlässigt, ist der Blick über den Labortisch hinaus, zum Beispiel in die Agrarstatistik. Schaut man sich die Historie des Rindfleisch- und Milchproduktekonsums in Indien und Japan sowie der Mongolei an, so ergeben sich schnell einige Auffälligkeiten, die zumindest zum Aufstellen einer Gegenhypothese herangezogen werden müssten. Und so funktioniert ja eigentlich die wissenschaftliche Beweisführung: Man sucht nicht nur nach Befunden, die die eigene Hypothese belegen, sondern auch nach Belegen, die zur Bestätigung der Gegenhypothese führen könnten. In diesem Fall würde diese ja lauten: Kuhmilch und Rindfleischkonsum erhöhen das Risiko für Darmkrebs nicht. So sieht man zum Beispiel (Quelle: FAOSTAT), dass die Japaner im Rückblick seit 1960 ähnlich viel Milch und Milchprodukte konsumieren wie die Inder, die Mongolen jedoch schon rund doppelt so viel. In Deutschland und Österreich liegen wir vergleichsweise auf einem absoluten  Spitzenwert von inzwischen über 250 kg pro Jahr.

Nun ist die Krebsentstehungstheorie ja auf den europäischen Rinderassen fußend und in der Mongolei und Indien wird Milch von Yak bzw. Büffel konsumiert. Das behalten wir im Hinterkopf. Der Rindfleischkonsum in Indien ist sehr gering, in Japan dagegen seit den 90er-Jahren nach einem Anstieg konstant, während er in der Mongolei, Deutschland und Österreich gesunken ist. Warum Österreich hier eine interessante Rolle spielt, klärt sich nach einem Blick in die Krebsstatistik der Weltgesundheitsorganisation (www.iarc.fr). Diese gibt darüber Aufschluss, dass Deutschland auf Platz 15 der weltweiten Krebsstatistik liegt und Japan auf Platz 43. Einen Platz hinter Japan befindet sich dann Österreich. Indien und die Mongolei finden sich in dieser Top-50-Liste  selbstverständlich nicht wieder. Warum? Ein Blick in die Altersentwicklung zeigt, was wir alle eigentlich schon wissen. Die Menschen in Japan werden im Durchschnitt mit rund 84 Jahren älter als irgendwo sonst auf dieser Welt. Auch in Deutschland und Österreich
liegt die durchschnittliche Lebenserwartung mit 80 bzw. 81 Jahren klar über der von Indien und der Mongolei, wo die Menschen auch heute im Durschnitt nicht das 70. Lebensjahr erreichen. Die Quelle hierzu ist unter der Internetadresse  www.population.un.org/wpp/ zu finden.

Sollte also ein wesentlicher Einflussfaktor durch den Konsum von Kuhmilch, Milchprodukten und Rindfleisch auf das Krebsrisiko vorliegen, so müssten die Erkrankungsraten in Österreich und Deutschland ähnlich hoch liegen, da Lebenserwartung und  Konsumverhalten vergleichbar sind. Die Lebenserwartung ist aus folgendem Grund wichtig für die Beurteilung der „Milch-macht-Krebs-Hypothese“: Sie hat einen wesentlichen Einfluss auf die Entstehung bestimmter Krebserkrankungen, denn mit dem Alter steigt das Risiko gerade für Darmkrebs. Die Einflussfaktoren für Krebserkrankungen sind generell äußerst vielfältig, vor allem aber steigt mit dem Alter die Fehleranfälligkeit dafür, dass während der Zellteilung auftretende Mutationen in der Erbinformation nicht durch unsere körpereigenen Reparaturmechanismen ausgebessert werden. Entsprechend kann ein unkontrolliertes Zellwachstum vor allem dort auftreten, wo die Zellerneuerung naturgemäß in schnelleren Zyklen abläuft, dazu zählt unter anderem auch unsere  Darmschleimhaut. Andere Gewebe sind dagegen kaum betroffen, da sie in großen Teilen auf Lebenszeit angelegt sind, zum Beispiel unser Nervensystem. Sieht man sich die Länder weltweit mit den häufigsten Raten an Darmkrebs für 2018 an, so finden sich dort auf Platz 9 die Japaner wieder, aber Deutschland und Österreich tauchen in der Top 25-Listung nicht mehr auf, Indien und die Mongolei selbstverständlich erst recht nicht, dort werden die Menschen schlicht nicht alt genug und damit ist auch die Häufigkeit der Darmkrebserkrankungen geringer.

Ein Blick in die historische Entwicklung der Darmkrebsraten (Quelle: Arnold et al., 2016) zeigt dennoch sinkende Raten an Neuerkrankungen und Todesfällen durch Darmkrebs in Japan. Auch die deutschen Krebsregister zeigen diese Entwicklung auf (Quelle: ww.krebsdaten.de und www.iarc.fr), während in Indien eine leichte Zunahme der Darmkrebsrate zu verzeichnen ist, allerdings immer noch auf einem vergleichsweise sehr geringen Gesamtniveau.

These fällt in sich zusammen

Nun lässt sich aus dieser Tatsache bereits vortrefflich mit hoher Sicherheit ableiten: Sollte der Milchkonsum ein Haupteinflussfaktor für Krebserkrankungen sein, so müssten Länder mit niedrigem Konsum von Milch und Milchprodukten aus Kuhmilch bzw. Rindfleisch auch eine sehr geringe Rate an Krebserkrankungen in der Bevölkerung aufweisen. Wir halten fest: Dieser Befund ist nicht feststellbar, da in Japan der Konsum dieser Lebensmittel deutlich geringer ist als zum Beispiel in Deutschland und Österreich, die Darmkrebsraten aber dagegen auf einem höheren Niveau liegen. Dies sollte umso mehr zum Überdenken der „Kuhmilch-und- Rindfleisch-lösen-Darmkrebs-aus-Hypothese“ anregen, als dass in Indien zwar auch Büffelmilch in großem Umfang konsumiert wird, jedoch nur sehr wenige Molkereien pure Büffelmilch verarbeiten. Die Erzeugung teilt sich laut einem Report des US-Landwirtschaftsministeriums von 2017 inzwischen hälftig zu jeweils 50 % auf Milch von Büffeln und Milchvieh auf, die in Mischungen an den  Endkunden gelangt. Ein weiterer Faktor, der einen kausalen Zusammenhang zwischen Kuhmilchkonsum und Darmkrebsrisiko in weite Ferne rücken lässt.

Und es gibt noch einen weiteren wichtigen Faktor für die Krebshäufigkeit neben dem Alter, der eine nähere Betrachtung wert ist. Die Rede ist von Übergewicht. Eine häufig zitierte Studie, wenn es um die gesundheitlichen Vorteile einer veganen oder  vegetarischen Ernährung geht, ist die Adventist Health Study 2 aus den USA (Quelle: Ohrlich et al., 2013). Die Gemeinde der Adventisten in den USA lebt nach bestimmten Regeln, wie zum Beispiel dem Verzicht auf Schweinefleisch und andere Fleischsorten, wodurch viele Adventisten einen vegetarischen Lebensstil pflegen. Zudem soll ihr Leben weder ausschweifend noch asketisch sein, das richtige Maß halten gilt als Prinzip. Diese Voreinstellungen macht sie für große Populationsstudien interessant, zumal es
über 1 Mio. Mitglieder dieser Gemeinde gibt. Man könnte sagen, dass es eine endemische Art im Sinne der Darwin’schen Evolutionstheorie ist. Sie leben nicht auf einer geographisch abgegrenzten Insel, sondern auf einer soziokulturellen Insel. Beste Voraussetzungen also, um die Anpassungseffekte für bestimmte Ernährungsvorlieben und -weisen näher zu studieren. Auch hier wird in bestimmten Kreisen häufig der Schluss gezogen, dass eine vegane Ernährungsweise mit dem geringsten Sterblichkeitsrisiko verbunden ist und daher der Verzicht auf tierische Lebensmittel aller Art zu empfehlen sei.

Kuhmilch und Fleisch von den auch in den USA vorrangig vorhandenen europäischen Rinderrassen stehen selbstverständlich besonders unter Verdacht. Falsche Indikatoren Leider entspricht diese vielfach wiedergegeben Essenz dieser Studie nur der halben Wahrheit, was aber offenbar niemanden davon abhält, sie so oft wie möglich zu wiederholen. Sei es in Fachmedien oder populärwissenschaftlichen Veröffentlichungen. Ein Blick in die Studie würde jedem Interessierten verraten, dass die Gruppe der Adventisten, die einem veganen Lebensstil folgt, mit einem Body-Mass-Index (BMI, Maß für die Verteilung von Körpermasse und Körpergröße) von 24 im Rahmen eines normalen Körpergewichts liegt. Die Gruppe der „Allesfresser“ hat dagegen einen durchschnittlichen BMI von 28, was bereits eine Vorstufe von krankhaftem Übergewicht indiziert und das Risiko für sämtliche Krankheitsbilder des metabolischen Syndroms und auch für Krebserkrankungen ansteigen lässt. Aber was sagt dies über die Ausgangsfrage aus, dass Milch womöglich Krebs auslösen könnte?

In der besagten Studie lag das gesamte Sterblichkeitsrisiko von Lacto-Ovo-Vegetariern, diese Menschen essen Eier sowie Milchprodukte und trinken Milch, 9 % unter dem Sterblichkeitsrisiko der Menschen ohne bestimmte Ernährungsweise, den Allesessern. Das Sterblichkeitsrisiko der Veganer lag 15 % darunter und das der Pesco-Vegetarier, diese essen als einziges tierisches Lebensmittel Fisch, lag sogar 19 % niedriger unter der Vergleichsgruppe der Allesesser. Es gab auch noch eine Gruppe, die mindestens einmal im Monat Fisch oder Fleisch aßen, aber nicht mehr als einmal pro Woche. Deren Sterblichkeitsrisiko lag 8 % unterhalb der Allesesser. Geringerer Konsum tierischer Lebensmittel könnte also das Sterblichkeitsrisiko mindern, so die Schlussfolgerungen, auch wenn der Einflussfaktor Übergewicht keine Berücksichtigung findet. Wer aber einen Blick speziell auf die Häufigkeit von Krebs wirft, und um die geht es ja hier, sieht schnell, dass dort das Risiko im Vergleich zu den Allesessern bei jeder anderen Ernährungsweise zwischen 6-10 % reduziert war. Die Lacto-Ovo-Vegetarier hatten mit 10 % die deutlichste Risikoreduktion.

Selbst wenn also der Einflussfaktor Übergewicht nicht in die Betrachtung einbezogen wird, so macht es also keinen Unterschied, ob Milch und Milchprodukte verzehrt werden, was die Häufigkeit von Krebserkrankungen betrifft. Es lässt sich sogar eher ableiten,  dass der Verzehr einen risikosenkenden Effekt haben könnte. Doch auch hier sei gewarnt: Eine Risikosenkung von 10 %, geschweige denn von 6-8 %, zeigt allenfalls in eine Richtung, die noch durch weitere Studien bestätigt sein sollte, bevor eine Empfehlung daraus abgeleitet wird. Eines lässt sich aber in der Tendenz damit sagen: Auch diese Studie liefert keinen Anlass einen negativen Effektvon Milch und Milchprodukten abzuleiten, sondern die entgegengesetzte Tendenz.Eine Ausnahme stellt Prostatakrebs dar, wo in einer sehr großen Beobachtungsstudie eine Risikosteigerung ab einem täglichen Konsum von 1,25 l Milch festgestellt wurde (Quelle: Allen et al., 2008). Der Befund ist allerdings bislang nicht durch weitere Erhebungen bestätigt.

Fazit

Diese Betrachtungen zeigen vor allem eines: Selbst, wenn es auf molekularer Ebene Anzeichen für potenziell krebsauslösende virale Ursachen in Kuhmilch und Rindfleisch geben sollte, so lassen sich diese in ihrer biologischen Relevanz für das  Krankheitsgeschehen derzeit nicht bestätigten. Vorerst sollten also Gerüchte über eine krebsfördernde Wirkung von Milch, Milchprodukten oder Rindfleisch in Medien und Populärtexten mit großer Vorsicht wahrgenommen werden und gegebenenfalls auch ein Hinweis an die Redaktion erfolgen, sich um eine sachliche Klarstellung zu bemühen.

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