Seit 1879 Lebensmittelindustrie und Milchwirtschaft

Milch macht dick – wer’s glaubt, ist selbst schuld!

16. Dezember 2021

Jedes Jahr sind die Regale der Buchhandlungen wieder gut gefüllt mit Ernährungsratgebern, die den Schlüssel für die schlanke Figur gefunden haben. Zumindest geben sie das vor und mit wenigen Ausnahmen verbreiten sie jedes Jahr aufs Neue Halb- und Falschwissen. Milch- und Milchprodukte kommen dabei je nach ideologischer und fachlicher Ausrichtung mal besser oder schlechter weg. Im letzteren Falle sind Milch und Milchprodukte dann schnell gefährliche Dickmacher. Obwohl dies jeglicher Evidenz entbehrt, halten sich die Gerüchte dank einschlägiger Meinungsmache hartnäckig.

Seit der Überarbeitung der zehn Regeln für eine ausgewogene und gesunde Ernährung der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE e.V.) im Jahr 2018 sind Milch und Milchprodukte sogar vollumfänglich rehabilitiert. Offiziell ist die in Deutschland zuständige Fachorganisation für wissenschaftlich basierte Ernährungsempfehlungen damals davon abgerückt, vorrangig den Verzehr fettarmer Milch und Milchprodukte zu empfehlen. Im Nachhinein lautet die Frage, wie man überhaupt darauf kommen konnte und was die ältere Empfehlung in den Köpfen von Multiplikatoren und Konsumenten bewirkt hat?

Zur Aufklärung der Gemengelage lohnt sich ein Blick auf die Definition von Milch im Sinne der Empfehlungen, denn dort gilt Milch aufgrund ihrer hohen Nährstoffdichte auch als „Nährmittel“, nicht aber als Flüssigkeit im Sinne eines Getränks. Das macht natürlich Sinn, da wohl kein natürlicherweise trinkfertiges Getränk mit ähnlich hoher Nährstoffdichte existiert. Darin liegt dann auch schon die ursprüngliche Begründung für eine Empfehlung fettarmer Milch: Um es bei der Gesamtenergieaufnahme im Tagesverlauf nicht zu übertreiben, aber dennoch von den vielen enthaltenen Nährstoffen zu profitieren, liefert fettarme Milch sicher einen geringeren Kalorienbeitrag als vollfette Milch. Böse Zungen leiteten aus dieser Empfehlung den Umkehrschluss ab, dass Milch und Milchprodukte dick machen könnten. Anhand einer evidenz-basierten Analyse leitete die DGE bei der Überarbeitung der Ernährungsregeln folgerichtig ab, dass der durchschnittliche Milchverzehr in Deutschland, laut Nationaler Verzehrstudie 2 etwa 99 ml pro Tag bei Frauen und 130 ml bei Männern, mit 32 beziehungsweise 41 kcal für Fett aus vollfetter Milch realistisch betrachtet nicht nennenswert das Risiko für Übergewicht steigern könne. Zudem wurde auch Entwarnung für die in Milchfett vorkommenden mittelkettigen Fettsäuren gegeben, die zuvor noch im Verruf standen, das Herzkreislauf-Risiko zu steigern. Aber wie konnte es überhaupt dazu kommen, der Milch ein „Dickmacher-Image“ anzudichten?

Grund 1 – Große Populationsstudien und Gegen-Studien

Große bereits länger laufende epidemiologische Studien wie etwa die Nurse’s Health Study oder die Adventist Health Study aus den USA, aber auch anderen Ländern, liefern beständig neue Daten über das Ernährungsverhalten und Krankheitsgeschehen der Teilnehmer. Teilweise über mehrere Jahrzehnte wird der Lebensmittelverzehr der Teilnehmer dokumentiert und auch ausgewählte anthropometrische Körperwerte, wie bspw. das Körpergewicht.

Da Milch und Milchprodukte in westlichen Industrienationen mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit auf dem alltäglichen Speiseplan stehen und die Übergewichtsraten parallel seit Jahrzehnten ansteigen, lassen sich statistisch ohne größere Ursachenforschung schnell Zusammenhänge (Korrelationen) zu häufiger konsumierten Lebensmitteln wie Milch und Milchprodukten finden als zu weniger häufig konsumierten Lebensmitteln. Da für die Entwicklung von Übergewicht jedoch eine positive Gesamtkalorienbilanz notwendig ist, kann ein einziges Lebensmittel allein kaum ausschlaggebend sein. Selbst, wenn die täglichen Mengen der verzehrten Milch und Milchprodukte eine relevante Größenordnung erreichen, so ist der Kalorieneintrag immer noch verhältnismäßig gering, wie zuvor erläutert. Ist eine rein auf Korrelation beruhende Aussage einer wissenschaftlichen Studie allerdings erst einmal im Umlauf, wird deren Gehalt nur selten hinterfragt.

Grund 2 – Anti-Milch Propaganda

In der kognitiven Psychologie wird die Existenz eine sogenannten „Belief-Bias“ beschrieben. Dabei handelt es sich um eine Verzerrung, der wir Menschen gerne unterliegen, wenn uns die Schlussfolgerung einer Argumentation aus persönlichen, politischen, gesellschaftlichen oder auch wissenschaftlichen Gründen besser ins Konzept passt, als es der Gehalt der angeführten Argumente hergibt. In diesem Fall wird halbwahren und/oder lautstark vorgetragenen Argumenten ein höherer Wahrheitsgehalt zugemessen, als es bei näherer Betrachtung der Fall wäre. Die verzerrte Wahrnehmung wird regelmäßig gezielt ausgenutzt, wenn bspw. in Ernährungsratgebern bestimmte Lebensmittel auf die Verbotsliste gesetzt werden, wenn es um Gewichtsabnahme geht. So empfehlen manche Ratgeber den Verzicht auf glutenhaltige Lebensmittel oder den Verzicht auf tierische Lebensmittel, auch wenn aus wissenschaftlicher Sichtweise kein ursächlicher Zusammenhang existiert, der dieses Vorgehen begründet. Die Anwender derartiger Ratgeber erreichen oftmals das Ziel einer Gewichtsabnahme, da sie ihre Ernährungsweise bewusst beeinflussen, und fühlen sich durch den Erfolg in der angewendeten Methode bestätigt. Ob die Methode wissenschaftlich begründbar ist, wird im Anschluss nicht weiter hinterfragt, nach dem Motto „Der Erfolg gibt Recht!“.

Grund 3 – fehlende Einordnungsmöglichkeiten

Die Informationsflut der modernen Kommunikationsplattformen ist für viele Menschen eine alltägliche Überforderung. Während sich das Augenmerk der Öffentlichkeit oftmals auf politische und gesellschaftliche Themen richtet, wenn es um „Kommunikationsblasen“ z.B. auf Social Media geht, ist beim Thema Ernährung ebenfalls ein nahezu nicht durchdringbarer Dschungel an unterschiedlichen Auffassungen, Idealen, Ideologien und Wissensdarstellungen auffindbar, der jedoch nicht als dringlichstes Problem der modernen Wissensgesellschaft wahrgenommen wird. Die Informationsbereitstellung redaktionell abgesicherter Inhalte findet in den traditionellen Publikumsmedien noch in vertretbarem Umfang statt, demgegenüber stehen allerdings eine Heerschar von selbsternannten Ernährungsexperten, Bloggern und Content Marketing Agenturen, die im Zweifel auch eigene Geschäftsmodelle verfolgen und keine neutral objektivierbaren Inhalte liefern oder offen einen „Conflict of Interest“ erklären. Staatliche oder öffentlich getragene Informationsangebote hinken bei der Reichweite gegenüber diesen von wirtschaftlichen Interessen getriebenen Angeboten häufig hinterher und institutionelles Wissen wird dazu noch gezielt in Misskredit gebracht, was Verbraucher weiter verunsichert. Wer neutral agierenden Institutionen nicht mehr sein Vertrauen schenkt, ist auch in Ernährungsfragen offen für einfache und extreme Parolen. Der Versuch, diese Parolen anhand plausibler Stellungnahmen oder Gegendarstellungen besser einzuordnen zu lassen, scheitert dann bereits an der Komplexität des entstehenden Sachverhaltes. An dieser Stelle ist ein uninformierter oder falsch informierter Verbraucher bereits für den sachlichen Diskurs verloren und ist gewillt, sich „nur noch auf die eigenen Erfahrungen“ zu verlassen oder auf solche, die aus persönlicher Perspektive anderer Menschen besonders überzeugend vorgetragen werden.

Gibt es denn Anlass zu glauben, das Milch dick mach?

Die klare Antwort lautet: Nein. Auch wenn Populationsstudien wie erwähnt statistische Zusammenhänge erkennen lassen, so sind diese mit mehreren Einschränkungen behaftet. So ist eine Studie aus den USA genauso wenig aussagekräftig für eine generelle Bewertung, ob Milch dick macht, wie eine Studie aus Skandinavien oder einem anderen Teil der Erde. Übergewicht ist genauso wie die meisten Zivilisationskrankheit von so vielen Faktoren abhängig, dass es äußerst unwahrscheinlich ist, einen ursächlichen Zusammenhang mit dem Konsum von Milch und Milchprodukten isolieren zu können. Ein ursächlicher Faktor für Übergewicht ist hingegen die Nahrungsenergiezufuhr, die auch durch den Konsum von Milch und Milchprodukte beeinflusst werden kann. Eine einfache Gegenüberstellung beider Faktoren mit den Adipositas-Raten aus über 160 Ländern liefert eine klare Aussage (Daten aus FAOSTAT für 2016).

Abbildung 1 und 2 zeigen die Adipositas-Raten ab 18 Jahren in Abhängigkeit des Verbrauchs von Milch und Milchprodukten. Abbildung 1 enthält alle Länder mit einem unterdurchschnittlichen Konsum (Median: 71 kg/Kopf/Jahr). Hier ergibt sich eine leicht positive Korrelation, die jedoch kaum als Hauptfaktor in einer Faktorenanalyse hervortreten dürfte. In Abbildung 2 sind die Länder mit einem überdurchschnittlichen Konsum dargestellt, hier wird diese Korrelation sogar noch zusätzlich abgeschwächt. Ein maßgeblicher Einfluss des Konsums von Milch und Milchprodukten auf die Häufigkeit von Adipositas ist also wenig wahrscheinlich. Ein klareres Bild ergibt sich aus der weltweiten Häufigkeit von Adipositas und der Nahrungsenergiezufuhr, wenn diese oberhalb der rechnerischen Bedarfsdeckung (2.000 kcal/Tag) liegt. Hier ergibt sich bereits eine stärkere Korrelation, die allerdings ebenfalls die ernährungsbedingte Überversorgung mit Nahrungsenergie nicht als alleinigen Faktor begründen kann. Bekanntlich sind genetische Prädisposition, Umweltfaktoren und Lebensstil weitere Prädiktoren des Köpergewichts, sodass auch diese Korrelation mit entsprechender Zurückhaltung zu bewerten ist.

Fazit

Milch und Milchprodukte stellen weltweit wichtige Nährstofflieferanten dar, das gilt sowohl für Makronährstoffe wie Protein, Fett und Kohlenhydrate als auch für Mikronährstoffe wie Vitamine, Mineralstoffe und Spurenelemente. Insbesondere durch ihren Fett- und Kohlenhydratgehalt kann Milch einen nennenswerten Beitrag zur Energieversorgung leisten. Im Rahmen der üblicherweise verzehrten Mengen besteht jedoch kein Anlass zur Annahme, dass Milch und Milchprodukte eine Zunahme der weltweit zunehmenden Raten von Übergewicht und Adipositas begründen.

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