Seit 1879 Lebensmittelindustrie und Milchwirtschaft

Wachstumsfaktoren in Milch: Angstmacher oder ist da was dran?

14. Dezember 2021

Nicht nur das „Wissensbuch“ des Jahres 2018 „Der Ernährungskompass“, sondern selbst Ärzte und Wissenschaftler warnen vor Wachstumsfaktoren in Milch. Sie sollen auch menschliche Zellen weiterwachsen lassen und so zu Krebserkrankungen führen. Kann das überhaupt sein?

Kein einzelnes Buch über Ernährung hat in den letzten Jahren auch nur annährend die Verkaufszahlen erreicht, wie der von Wissenschaftsjournalist Bas Kast verfasste „Ernährungskompass“. Das Buch verspricht mit seinem Untertitel nicht weniger als „das Fazit aller wissenschaftlichen Studien zum Thema Ernährung“. Der Autor widmet sich in einem eigenen Unterkapitel auch dem Thema Milch und kommt auf einer Handvoll Seiten zu hanebüchenen Schlussfolgerungen, die es im Folgenden näher zu betrachten gilt.  Doch zuvor sei noch darauf hingewiesen, dass es hier nicht darum geht, populärwissenschaftliche Medien generell anzugreifen, doch mit diesem Buch erreichte ein beträchtliches Maß an Falschwissen ein Millionen-Publikum. Zusätzlich wurde durch unzählige Beiträge in Zeitungen, Magazinen, Fernseh- und Radiosendungen eben dieses Falschwissen multipliziert. Allein in zwei Auftritten der reichweitenstärksten deutschen Talkshow „Markus Lanz“ konnte der Autor seine Thesen ohne weitere Nachfrage wiederholen.

Danach trinke der Mensch als einziges Säugetier noch im Erwachsenenalter Milch, wobei Milch doch eigentlich ein Wachstumsgetränk für Kälber sei und das einzige, was bei erwachsenen Menschen noch wachsen könne, sei schließlich Krebs. Genau diese Aussage ist zudem ein beliebtes Argument in diversen veganen Medien geworden, die der Milch eine negative Gesundheitswirkung nachsagen. So soll dem eigentlichen Ziel, nämlich für mehr Tierrechte einzutreten, ein weiteres Argument für den Verzicht auf Milch und Milchprodukte zugeliefert werden. Nun könnte man an dieser Stelle meinen, wen kümmert‘ s, schließlich handelt es sich ja um populärwissenschaftliche Schriften und nicht etwa um ernstzunehmende wissenschaftliche Originalpublikationen.

Doch genau dies sollte der Anlass sein, genauer hinzusehen und die Fakten entgegenzustellen. Denn grundsätzlich erreichen wissenschaftliche Originalpublikationen höchstens einen kleinen Kreis interessierter Wissenschaftler oder schaffen es als  Pressemitteilung in Online-Portale und Tageszeitungen. Ernährungsratgeber erreichen jedoch ein interessiertes Millionenpublikum in Buchhandlungen, Bahnhofsbüchereien und Online-Markplätzen. Und das umso effektiver, je mehr Ängste geschürt werden. Die Angst vor schweren Krankheiten ist in jeder Angst-Umfrage ein Evergreen. Und wer möchte nicht informiert sein, wenn er sich durch seine Ernährung täglich dem Risiko aussetzt, an einer schweren Krankheit zu erkranken? Aufmerksamkeit ist den meisten populärwissenschaftlichen Veröffentlichungen also sicher, wenn sie nur ein wenig Angst schüren, selbst wenn dahinter kein studierter Experte steht, sondern eben ein Journalist, YouTuber, Blogger oder einfach jemand, der eine persönliche  Selbstheilungsgeschichte zu erzählen hat. Und leider prägen sich auf diese Art und Weise Meinungen heraus, die umso mehr Akzeptanz und Glauben finden, je häufiger sie wiederholt werden.

Fakten sind hingegen wenig unterhaltsam, wenn nicht sogar ernüchternd, wenn dabei rauskommt, dass es eigentlich relativ harmlos ist, sich zu ernähren. Plötzlich fehlt die Orientierung, was dem eigenen Leben Sinn gebietet. Und das Schlimmste ist die  aufkommende Vermutung, bislang möglicherweise einem Irrglauben aufgesessen zu sein, was die Erkenntnis-Resistenz gegenüber Fakten weiter bestärkt. Bei Finanzprodukten hat sich der ein oder andere sicher schon mal für eine Fehlentscheidung mit der Begründung geholfen, dass schon die allgemeinen Geschäftsbedingungen ein Studium der Mathematik benötigt hätten, aber beim Thema Ernährung? Hier ist der pure Glaube an die „richtige“ Ernährung oft stärker als jegliche Fakten. Was sagen also die Fakten
über Wachstumsfaktoren in Milch?

Fakt: Milch enthält Wachstumsfaktoren

Milch, das ist klar, enthält natürlicherweise Wachstumsfaktoren. Das muss so sein, sonst wäre sie für Säugetiere evolutionsbiologisch sinnlos. Quantifizierbare Wachstumsfaktoren in Kuhmilch sind beispielsweise EGF (Epidermal Growth Factor), IGF (Insulin-like Growth Factor) und TGF (Transforming Growth Factor). Ihre Gehalte reduzieren sich durch Haltbarmachungsverfahren deutlich, sodass in der Konsummilch letztlich bereits ein reduzierter Gehalt an Wachstumsfaktoren vorliegt. In ultrahocherhitzter Milch sind  manche Wachstumsfaktoren bereits nicht mehr nachweisbar. Auch Fermentation senkt den Gehalt an Wachstumsfaktoren deutlich (Quelle: ANSES, 2012).

Wachstumsfaktoren im menschlichen Blut

Eine europaweit durchgeführte Studie zum Einfluss der Ernährung auf Krebserkrankungen (EPIC-Studie, Crowe FL et al., 2009) hat auch den Zusammenhang zwischen Wachstumsfaktoren aus Lebensmitteln und dem Einfluss auf den Gehalt dieser Faktoren im menschlichen Blut untersucht. Für die Entstehung von Krebserkrankungen ist insbesondere ein Zusammenhang zu IGF-1 bekannt, der in Milch wie auch im menschlichen Körper in identischer molekularer Form existiert. Der Wachstumsfaktor stimuliert das  Zellwachstum und sein physiologischer Wirkmechanismus gilt auf molekularer Ebene als gut charakterisiert. Das bedeutet jedoch längst nicht, dass IGF-1 aus Milch automatisch zu einem übermäßigen Zellwachstum führt.

In der entsprechenden Studie und auch in anderen Studien zur Bioverfügbarkeit konnte nicht nachgewiesen werden, dass IGF-1 aus Milch im menschlichen Blut auftaucht. Gleichwohl wurde gezeigt, dass bei Konsum von Milchprotein und Kalzium aus Milch offenbar die körpereigene Synthese von IGF-1 stimuliert wird. Die Steigerung der IGF-1 Gehalte im Blut belief sich dabei jedoch auf niedrige einstellige Prozent. Ein Vergleich mit den Referenzwerten für normale IGF-1 Gehalte im menschlichen Blut der untersuchten Altersklasse weist eine Spanne zwischen 50-230 Mg pro l aus, während die Teilnehmer der Studie im Schnitt einen Gehalt von 205 Mg pro l zeigten.

Selbst eine geringe steigernde Wirkung auf den IGF-1-Spiegel im Blut durch Milch würde also noch vollkommen im physiologischen Rahmen liegen. Erst recht besitzt aber IGF-1 aus Milch keine Relevanz für die IGF-1 Gehalte im menschlichen Blut. Warum
Kalzium und Proteine aus Milch und Milchprodukten eine steigernde Wirkung auf die körpereigene IGF-1-Produktion haben könnte, ist bislang nicht geklärt, es handelt sich um eine reine Korrelation ohne einen bekannten kausalen Zusammenhang.

Mythos: Milch/-produkte steigern das Krebsrisiko

Wie ein Vergleich der möglichen steigernden Wirkung von Wachstumsfaktoren in Milch auf die körpereigene Produktion des Wachstumsfaktors IGF-1 zeigte, bewegen sich die Auswirkungen in einem unbedenklichen physiologischen Rahmen. Dennoch hält sich das Gerücht hartnäckig, dass Milch die Entstehung von Krebs fördern könnte. Bei Analyse der Studienlage, kristallisiert sich heraus, dass es hier nur im Falle von Prostatakrebs zu einer Risikosteigerung kommen kann, wenn mehr als 1,25 l Milch pro Tag  getrunken werden. Bei anderen Krebsarten zeigen epidemiologische Studien keinen Einfluss oder sogar einen risikomindernden Zusammenhang des Konsums von Milch und Milchprodukten. Was jedoch die Häufigkeit von Prostatakrebs betrifft, ist auch hier der gefundene Zusammenhang bisher nur korrelativ, ein Wirkmechanismus ist nicht bekannt. Was jedoch ohne große wissenschaftliche Studien gezeigt werden kann, ist, dass in Deutschland kein populationsübergreifender Zusammenhang zwischen der  Erkrankungsrate von Prostatakrebs und dem Konsum von Milch und Milchprodukten existiert.

Die altersstandardisierten Krebsregisterdaten des Robert Koch-Instituts zeigen einen Anstieg der Neuerkrankungen zwischen dem Jahr 2000 bis 2003. Nach mehreren Jahren auf gleichbleibendem Niveau sank die Neuerkrankungsrate ab dem Jahr 2011 wieder ab und erreichte schließlich 2014 ein ähnliches Niveau wie im Jahr 2000. Im vergleichbaren Zeitraum zeigen die Daten der Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung einen nahezu unveränderten Pro-Kopf-Konsum von Frischmilcherzeugnissen und Käse. Die Gegenüberstellung der Daten lassen zwar keine Aussage über das individuelle Erkrankungsrisiko für Prostatakrebs zu und auch kann nicht vollkommen ausgeschlossen werden, dass der Konsum von Frischmilcherzeugnissen oder Käse das Erkrankungsrisiko beeinflussen könnte, es besteht jedoch gleichermaßen keinerlei Anlass für die Warnung vor einer möglichen krebsfördernden Wirkung von Wachstumsfaktoren aus Milch und Milchprodukten.

Auch wenn populärwissenschaftliche Medien und reichweitenstarke Publikumsmedien ungeprüft Ergebnisse von Forschungsarbeiten oder journalistischen Recherchen übernehmen, die Wachstumsfaktoren aus Milch für eine krebsfördernde Wirkung verantwortlich machen, so widerspricht diese Gangart klar dem Grundsatz der Unschuldsvermutung, die für Grundnahrungsmittel generell gelten sollte. Doch scheinbar folgt auch hier die Berichterstattung oftmals dem Prinzip „Lieber als Erster eine Schlagzeile verbreiten denn als Zweiter die Fakten“.

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