Die Patentwelle ist schon am Rollen
Bioland-Präsident Jan Plagge zur Reform des Gentechnikrechts.
Aktuell ist das Tempo etwas raus aus den Debatten über eine Novellierung des EU-Gentechnikrechts. Und das ist gut so. Denn die EU war beim Thema schon mehrfach kurz davor, überhastete und nicht bis zum Ende gedachte Entscheidungen zu treffen. Seit der Übernahme der Ratspräsidentschaft durch Ungarn am 1. Juli scheint man sich nun etwas mehr Zeit zu lassen. Auch die EU-Agrarminister konnten sich bislang nicht auf eine gemeinsame Position einigen, was aber Grundvoraussetzung für den Trilog ist. Das verschafft Zeit – und die wird man brauchen, denn noch immer sind viele Fragen und Problemstellungen unbeantwortet.
Da wäre zunächst das Thema Transparenz und Wahlfreiheit. Verbraucher, Landwirte und Lebensmittelproduzenten müssen weiterhin durch klare Kennzeichnung und Rückverfolgbarkeit vom Produkt im Laden bis hin zum Saatgut selbst erkennen können, ob Gentechnik – und das schließt die neuen genomischen Techniken (NGT) mit ein – eingesetzt wurde. Auch für die Gentechnik-Befürworter ist das letztlich wichtig: Denn nur mit einer solchen Transparenz kann man überhaupt Vertrauen für eine Technologie schaffen, der die Menschen eher skeptisch gegenüberstehen.
Klar ist auch, egal wie und ob das EU-Gentechnikrecht angefasst wird: Ein fairer Wettbewerb des Anbaus und der Produktion mit und ohne Gentechnik muss erhalten bleiben. Denn Produkte, die ohne Gentechnik hergestellt werden – wie zum Beispiel alle Bio-Lebensmittel – müssen weiterhin Teil eines vielfältigen Lebensmittelmarktes bleiben. Daher ist es unerlässlich, dass Unternehmen, die NGT für sich nutzen, auch für mögliche Schäden verantwortlich sind und haften.
Und schließlich braucht es bindende Koexistenzmaßnahmen, um eine langfristige Produktion von Lebensmitteln ohne Gentechnik zu gewährleisten. Nur so kann man die Wahlfreiheit der Verbraucher und die Integrität der landwirtschaftlichen Produktion bewahren.
Zu den unbeantworteten Fragen gehört auch die nach dem Umgang mit Patenten. Denn durch den Einsatz von neuen Gentechniken wie CRISPR/Cas können auch Pflanzen aus der Natur und deren natürliche Eigenschaften, wie etwa Resistenzen, als geistiges Eigentum beansprucht und zum Patent angemeldet werden. Diese Kommerzialisierung von Prozessen, welche die Natur hervorgebracht hat, ist völlig absurd und sie bedroht kleine wie mittlere Zuchtbetriebe, da sie den freien Zugriff auf diese Pflanzen und deren Eigenschaften verlieren. Die entsprechende Lücke im Patentrecht muss schleunigst geschlossen werden, denn die Patentwelle ist schon längst am Rollen.
Gemeinsam im Bündnis mit zahlreichen anderen Verbänden machen wir als Bioland noch bis Mitte Oktober mit unseren „Aktionswochen für gentechnikfreies Essen“ auf das Thema aufmerksam und fordern, dass die vielen offenen Fragen endlich beantwortet werden – und das unbedingt, bevor es in Brüssel und Straßburg in die Entscheidungsphase geht.
Mit solchen Forderungen sind wir, die Bio-Branche, bei Weitem nicht allein. Sie finden sich auch in einem Offenen Brief von 376 Unternehmen der gesamten Lebensmittelbranche aus 16 EU-Ländern, der Anfang des Monats an den ungarischen EU-Ratsvorsitzenden für Landwirtschaft und Fischerei, Dr. István Nagy überreicht wurde. Ein gutes Signal: Nagy sicherte den Unternehmen sogleich seine Unterstützung zu.
Ich bin generell der Meinung, dass die (Neue) Gentechnik als einzelnes Werkzeug massiv überschätzt wird. Denn die Herausforderungen, denen die Landwirtschaft gegenübersteht, erfordern einen ganzheitlichen Ansatz, der technologische Innovationen mit ökologischen und sozialen Maßnahmen kombiniert. Übrigens: Auch der Bericht des Strategic Dialogue on the future of EU agriculture spiegelt diese Vielseitigkeit wider und betont die Notwendigkeit einer integrierten und umfassenden Transformation – zum Wohl aller Menschen, die in der EU leben. AgE
Jan Plagge