Milch als Klimakiller Nr. 1 – oft gehört und doch nicht wahr!
Die Vorschläge zur Rettung der Welt nehmen in den letzten Monaten immer abstrusere Formen an. Von der Einführung der Geburtenkontrolle bis hin zur Rückkehr in das Zeitalter vor der Industrialisierung. Einer unrealistischer als der andere. Dagegen wirken manche Einwürfe einzelner Aktivisten und Vertreter einschlägiger Ernährungsformen auf den ersten Blick sympathisch pragmatisch, wenn es um die alltägliche Ernährung geht. Da stehen dann Fleisch und Milch als Grundnahrungsmittel auf der schon lange vor dem jetzigen Aktionismus angefertigten Abschussliste. Grob gesagt lautet die Devise der Weltenretter: Pflanzliche Lebensmittel sind klimafreundlich und tierische Lebensmittel sind Klimakiller. Das muss man sich einmal genauer anschauen.
In der Wahrnehmung des öffentlichen Diskurses haben Milch und Milchprodukte inzwischen Fleisch und Fleischprodukten den Rang abgelaufen, wenn es um die Frage geht, welche Lebensmittel ganz oben auf die Klimaschutzliste kommen. Das ist zunächst einmal kein Wunder, wurde Fleisch in den letzten Jahren erfolgreich als Krebsauslöser in Szene gesetzt. Nicht zuletzt die Einstufung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) im Jahr 2015, verarbeitetes Fleisch sei krebserregend und rotes Fleisch sei möglicherweise krebserregend, hat vielen einfach in den Diskurs geworfenen Verdachtsmomenten eine Art offizielle Legitimation für die unreflektierte zigfache Wiederholung jeglicher Verdachtsmomente in Form absoluter Gewissheit verliehen, auch wenn sich die WHO ausdrücklich nur auf das Darmkrebsrisiko bezieht.
Die hohe Klimawirksamkeit der reinen Fleischproduktion liefert in den Kommunikationskonzepten der gängigen Kritiker tierischer Lebensmittel inzwischen aber nicht mehr ausreichend Aktivierungspotenzial, da sich durch die vorgebrachten negativen Gesundheitsaspekte bereits eine gewisse kritische Masse gegenüber Fleisch gebildet hat, die sich durch Klimaargumente nicht mehr multiplizieren lässt. Vegetarismus war und ist ohnehin schon immer für einen Teil der Menschen eine annehmbare Alternative zur ausgewogenen Ernährung gewesen. Also sind Milch und Milchprodukte nun verstärkt ins Visier geraten, hier gibt es noch ausreichend Angriffsflächen, die zwar auch schon vor der Klimadebatte bespielt wurden, aber nun in einem „Nachhaltigkeits-Komplex“ mit CO2-Emissionen ebenfalls eine neue Dynamik entwickeln.
Ethische Komponente des Fleischverzichts
Eine besondere Rolle spielen dabei die nicht immer ganz auf einer Ethik-Linie verlaufenden veganen und vegetarischen Strömungen. Während es für viele Menschen angesichts einer drohenden Klimakatastrophe nun durchaus opportun erscheint, weniger Fleisch zu essen oder ganz darauf zu verzichten, was im letzten Fall einer vegetarischen Ernährung entsprechen würde, ist das Anliegen der veganen Ernährung weit darüber hinauslaufend. Ein Fleischverzicht ist längst nicht ausreichend, geschweige denn weniger Fleisch zu konsumieren, sondern das oberste Gebot richtet sich an einer Art ethischer Gleichstellung von Lebewesen mit dem Menschen aus. Tiere zum Nutzen des Menschen zu halten oder zu töten, ist dementsprechend ethisch nicht begründbar, da es die Grundrechte eines jeden Lebewesens auf ein unversehrtes Leben missachten würde.
Es ist nicht verwunderlich, dass unter dieser Dogmatik jede vergleichende Analyse der Ökoeffizienz unterschiedlicher Ernährungsstile der veganen Ernährung die Bestnoten erteilt, gefolgt von der vegetarischen Ernährung und schließlich einer ausgewogenen Ernährung nach den anerkannten Empfehlungen verschiedener Fachgesellschaften weltweit. Weniger Lebensmittel zu essen als es die vegane Ernährungsweise zulässt, ist sozusagen nicht möglich, sie ist der Endpunkt der Nahrungsmittelauswahl.
Ungeachtet des mit einer veganen Ernährung verbundenen Risikos für spezifische Nährstoffmängel, wird eine ernährungsphysiologisch durchaus vertretbare vegetarische Ernährung, die Milch, Milchprodukte, Eier oder auch Fisch enthalten kann, in der Agitationsstrategie veganer Aktivisten jedoch nur als Zwischenstufe zum Erreichen der höchsten Stufe ethisch-moralischen Handelns im Sinne der Tierrechte betrachtet. Nach dem Motto „Du hast es fast geschafft“ … ein guter Mensch zu sein, lautet die Logik also: Welche Argumente brauchst Du noch, um vollständig auf tierische Lebensmittel zu verzichten? Nun steht mit der Absicht, die Welt zu retten, wohl das überzeugendste Argument im Raum, um diesen letzten Schritt zum Veganismus gehen zu müssen. Und was kann man schon dagegen haben, wenn jemand die Welt retten will?
Der Dreiklang der Nachhaltigkeit
Dass die Welt bald untergeht, glaubten die Menschen schon bevor sie das Feuer erfunden hatten und auch nachdem Jesus Christus geboren ward. Noch im 6. Jahrhundert nach Christus verdunkelte ein verheerender Vulkanausbruch weltweit den Himmel, führte zu Missernten und vielen Opfern. Im 18. Jahrhundert erschütterte ein Erdbeben Lissabon, die Stadt lag in Trümmern. Beide Male wurden schnell Götterzorn und Fehlverhalten als Ursache für die Misere ausgemacht. Beide Male entwickelten die Menschen im Anschluss neue Technologien, um gegen wiederkehrendes Unheil besser gewappnet zu sein. Mit Erfolg, wie wir heute wissen, denn weder die Menschheit noch Lissabon sind vom Erdboden verschwunden.
Den Menschen war schon immer bewusst, dass ökologische, ökonomische und gesellschaftliche Prozesse ineinandergreifende Ressourcen sind, die gesamtgesehen den Fortbestand der eigenen Art sichern sollen. Dass dieser Nachhaltigkeits-Dreiklang inzwischen wissenschaftlich und praktisch immer besser erforscht und dargestellt werden kann, ist ein weiteres Zeichen menschlichen Daseins.
Was die Ernährung betrifft, hat schon der Demograph Thomas R. Malthus (1766-1834) zu Lebzeiten die These der sogenannten „Malthusianischen Katastrophe“ aufgesetzt: Ungebremstes Bevölkerungswachstum führt demnach zum Niedergang von Gesundheit und persönlichem Einkommen, was Krisen wahrscheinlicher macht. Gleichzeitig sah er Hungersnöte, Kriege und Krankheiten als naturgegebenes Regulativ, das unweigerlich zum Tragen käme, wenn ein bestimmtes für die jeweilige Region spezifisches Verhältnis von Bevölkerungsanzahl und verfügbaren Ressourcen erreicht sei.
Auch wenn diese These im Laufe der jüngeren neuzeitlichen Menschheitsgeschichte immer wieder Bestätigung erfuhr, so wurde sie durch das Zeitalter der Industrialisierung eindrucksvoll außer Kraft gesetzt, zumindest auf absehbare Zeit. Lag die Lebenserwartung eines 1800 geborenen Menschen noch bei 30 Jahren, so lag sie laut Weltbank im Jahr 2017 bei 71 Jahren. Vor allem die Entwicklung von energieproduzierenden Systemen, die Elektrifizierung und Fortschritte in der Gesundheitsprävention sowie Krankheitstherapie haben kombiniert mit politisch-gesellschaftlichen Reformen, insbesondere in den demokratisch-kapitalistisch geprägten Regionen der Welt, zu mehr Wohlstand, Gesundheit und Lebensqualität geführt.
Auch wenn für die Rückständigkeit des afrikanischen Kontinents sowie Teilen Asiens und Osteuropas eine mangelnde Verteilungsgerechtigkeit mitverantwortlich ist, so sind und werden die Bevölkerungszunahmen bis 2050 dennoch vor allem in diesen Regionen zu verzeichnen sein, da auch dort eine relative Verbesserung der Lebensverhältnisse stattgefunden hat. Die zentrale Frage im Sinne der Vermeidung einer Malthusianischen Katastrophe lautet also: Wie kann die Produktion von Energie, Nahrung und Konsumgütern des alltäglichen Gebrauchs inklusive Mobilität bei einem weltweiten Bevölkerungsanstieg (von 1 Milliarde um 1800) auf rund 10 Milliarden im Jahr 2050 im Sinne des Nachhaltigkeits-Dreiklangs Schritt halten?
Die Planeten-Ernährung als Lösung?
Um sich einem realistischen Lösungsansatz anzunähern, insbesondere was die Ernährung betrifft, ist es sinnvoll, zunächst einige bekannte Platzhalter aus der Formel gegen den Klimawandel zu benennen und rauszunehmen. Eine sehr vereinfachte, aber dafür verständliche, Formel hat der Microsoft-Gründer und selbsternannte Philanthrop Bill Gates schon 2010 aufgestellt. Sie lautet CO2 = P x S x E x C. P steht für Bevölkerung, S steht für sämtliche Prozesse und Dienstleistungen (Services), E für den Energiekonsum und C für die Bereitstellung von fossiler Energie, die ihrerseits allerdings ebenfalls mit negativen Umwelteffekt behaftet ist.
Da die Bevölkerung auf absehbare Zeit weiter zunimmt, damit auch die notwendigen Prozesse und Energieleistungen, stellt die CO2-neutrale Energiebereitstellung den größten Hebel zur Senkung der CO2-Emissionen dar. Zu dieser Schlussfolgerung kommen auch der ehemalige Direktor und Gründer des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung, Hans Joachim Schellnhuber, und sein Co-Autor Stephan Rahmstorf in ihrer gemeinsamen populärwissenschaftlichen Publikation „Der Klimawandel – Diagnose, Prognose, Therapie“, während eine vegetarische oder vegane Ernährung zur Abwendung einer Klimakatastrophe als Primärintervention erst gar nicht zur Sprache kommt. Dennoch sind Ratschläge wie die des Bestsellerautors Jonathan Safran Foer, man solle bis zum Abend auf tierische Lebensmittel verzichten, um jeden Tag das Klima zu retten, derart alltagsbezogen und einprägsam, dass selbst der Drogerieketten-Gründer Dirk Rossmann sich bewogen sah, das Buch an sämtliche Bundestagsabgeordneten und DAX-Vorstände in Deutschland zu senden und darüber hinaus 25.000 Exemplar gratis über die Websites seines Unternehmens an interessierte Kunden abzugeben. Das Buch stieg in der Folge auf Platz 1 der Spiegel-Bestsellerliste. Allein dieses Beispiel zeigt, wie populäre Ratschläge zur Reduktion der CO2-Fußabdrucks medial aufgegriffen und multipliziert werden können, was auch auf alternative Mobilitätskonzepte oder Energiesparen im Privathaushalt zutrifft, aber die öffentliche Debatte allzu oft auf den Faktor Ernährung lenkt, anstatt den von den genannten Experten großen Hebel der Primärenergieerzeugung in Bewegung zu setzen, was sich auch sofort auf sämtliche Wirtschafts- und Konsumsektoren auswirken würde.
Erschwerend hinzukommt, dass eine Reihe unterschiedlicher Bilanzierungsansätze, auf die wir noch eingehen werden, den Einfluss der Lebensmittelproduktion und des Konsums je nach Systematik anteilig in unterschiedlicher Größenordnung an den Gesamtemissionen ausweisen. Unabhängig von der Bilanzierungssystematik hat eine wissenschaftliche Kommission Anfang 2019 eine Ernährungszusammenstellung veröffentlicht, die in den Medien gemeinhin als „Planten-Ernährung“, „Planeten-Diät“ oder „Planetary Health Diet“ bezeichnet wird. Diese Zusammenstellung zeigt anhand von grammgenauen Mengenangaben, wie viel von welchem Grundnahrungsmittel täglich verzehrt werden kann, damit jeder Mensch auf der Welt ausreichend mit Makro- und Mikronährstoffen versorgt ist und die sogenannten planetaren Grenzen zum Erhalt und zur Regeneration der natürlichen Ressourcen nicht überschritten werden.
Wie viel von was?
Ein im Diskurs immer wieder genannter Fakt ist zudem, dass die als „Lancet-EAT-Commission“ bezeichnete Wissenschaftskooperation unter anderem durch die norwegische Stordalen-Stiftung finanziert wurde, die sich neben allgemeinen Nachhaltigkeitszielen auch für die Stärkung von Tierrechten einsetzt. Ebenso ist der Vorsitzende der Kommission, Professor Walter Willet von der Harvard Universität, ein bekennender Verfechter der vegetarischen Ernährung. Ohne den Empfehlungen der Kommission an dieser Stelle einen Interessenskonflikt unterstellen zu wollen, ist die Darstellung der Ergebnisse in Medien und Multiplikatoren-Formaten stets gleichlautend: Der Beitrag von tierischen Lebensmitteln zu der mit 2.500 kcal angesetzten täglichen Energieversorgung ist mit rund 12 % derart gering, dass ein Verzicht nicht weiter ins Gewicht fallen würde.
Dass der ernährungsphysiologische Wert tierischer Lebensmittel nicht in ihrer Energiedichte, sondern Gesamtnährstoffdichte liegt, wird dabei allerdings unterschlagen. Ebenso zeigt ein Vergleich mit den Daten der letzten Verzehrserhebung in Deutschland, dass die Empfehlungen der Kommission bereits in weiten Teilen umgesetzt sind, wobei jedoch auch noch ein näherer Blick auf den Fleisch- und Milchkonsum notwendig ist. Die durchschnittliche Empfehlung für Fleisch liegt bei 43 g pro Tag bis maximal 86 g. Das entspräche etwa 300 bis 600 g pro Woche, was exakt der evidenzbasierten Empfehlung der Deutschen Gesellschaft für Ernährung entspricht. Wobei die EAT-Kommission auch eine fleischfreie Ernährung ermöglicht und den maximalen Wert nur in Regionen mit ansonsten kaum vorhandenen Nähralternativen anregt. Faktisch werden in Deutschland von Frauen wöchentlich etwa 600 g Fleisch verzehrt und von Männern 1.100 g. Eine Reduktion des Fleischkonsums um die Hälfte bzw. zwei Drittel wäre also dementsprechend im Sinne der Planeten-Ernährung.
Wie sieht es nun mit Milch und Milchprodukten aus? Die EAT-Kommission rechnet hier mit einer Empfehlung von durchschnittlich 250 g pro Tag bis maximal 500 g pro Tag. Allerdings mit dem wichtigen Unterschied, dass hier Milchäquivalente angesetzt werden. Die Empfehlung der Deutschen Gesellschaft für Ernährung liegt bei 250 bis 310 g Milch und Milchprodukten pro Tag, der Verzehr liegt laut Nationalem Ernährungsmonitoring (NEMONIT) in Deutschland für Frauen bei 184 g pro Tag und 12 g tierischen Fetten inklusive Butter sowie für Männer bei 205 g pro Tag, plus 15 g tierischen Fetten inklusive Butter. Eine grobe Berechnung der Milchäquivalente des tatsächlichen Verzehrs exklusive Butter liefert für Männer 568 g pro Tag und für Frauen 547 g pro Tag. Die verzehrten Mengen lägen im deutschen Populationsmittel mit 557 g also um 57 g über der Obergrenze der Empfehlungen der EAT-Kommission. Ohnehin würde der reine Trinkmilchverzehr mit etwa 131 g pro Tag für Männer und 98 g für Frauen (Quelle: Nationale Verzehrstudie 2) keine planetaren Grenzen sprengen, auch wenn beispielsweise der Verzehr von Käse und Butter reduziert würde. Butter, das sei an dieser Stelle angemerkt, fließt mit einem Faktor von 22,5 Milchäquivalenten in die Bilanzierung ein, sodass hier im Durchschnitt nochmals 300 g Milchäquivalente zugerechnet werden müssten, allerdings erlaubt die Planeten-Ernährung bis zu 11,8 g gesättigte Fette pro Tag, was wiederum auch einen gewissen Butterkonsum ermöglichen würde.
Alles eine Frage der Bilanzierung?
Zusammenfassend lässt sich also laut der im Übrigen auch von Vertretern der veganen Ernährung oftmals als Richtschnur angeführten Planeten-Ernährung ableiten, dass Milch und Milchprodukte im Umfang des derzeitigen Verzehrs in Deutschland mit leichten Anpassungen nicht zu beanstanden sind. Eine weitere Anfang 2019 erschienene Studie, die im Rahmen der „Global Burden of Disease“-Auswertung von Konsum- und Gesundheitsdaten aus 195 Ländern weltweit publiziert wurde, empfiehlt täglich
500 g Milch und Milchprodukte, was allerdings keine Umweltaspekte miteinbezog und auch nicht als Milchäquivalent angegeben ist. Doch woher kommen dann die vielen Unkenrufe, die Milch und Milchprodukte als Grundnahrungsmittel immer mehr in Verruf bringen? Das ist eine Frage der Bilanzierung.
Zunächst können Bilanzierungssysteme für CO2-Emissionen in sogenannte Quellen- und Verbrauchsanalysen unterschieden werden. Für die Quellenanalyse gelten die Empfehlungen des Weltklimarates IPCC zur Treibhausgasberichterstattung gemäß Klimarahmenkonvention (IPCC Guidelines for National Greenhouse Gas Inventories, Volume 4, Agriculture, Forestry and Other Land Use (2006) und 2019 Refinement to the 2006 IPCC Guidelines for National Greenhouse Gas Inventories). Nach diesen Vorgaben erstellt auch das Umweltbundesamt seine Aufstellung, wonach die Emissionen der Landwirtschaft ohne Berücksichtigung der von Landnutzung, Landnutzungsänderungen und Forstwirtschaft 2017 in Deutschland mit 66 Mio. t pro Jahr anteilig 7,3 % der gesamten deutschen Emissionen darstellen (rund 906 Mio. t). Der letzte IPCC-Report wies alleinig für die Landwirtschaft mit weltweit 6,2 Gt CO2 bezogen auf das Jahr 2016 rund 12 % der weltweiten Gesamtemissionen von 52 Gt CO2 aus. Die oftmals in den Medien kommunizierte Zahl von 23 % schließt darüber hinaus auch noch Emissionen aus Forstwirtschaft und weiteren Landnutzungsarten und Änderungen ein.
Vorkette der Emission nicht vergessen
Eine weitere Betrachtungsweise für den deutschen Ernährungssektor liefert eine Berechnung des Thünen-Instituts von 2019, welche auch Emissionen der Vorkette der Produkte enthält, zum Beispiel Emissionen aus der Erzeugung von Betriebsstoffen etc., und auf insgesamt 130 Mio. t für die deutsche Landwirtschaft kommt, was 13,7 % der deutschen Emissionen im Bezugsjahr 2010 entspräche. Nun lässt sich noch die gesamte Wertschöpfungskette national und global bilanzieren, was zu wiederum anderen Darstellungen führt. Die einzelnen Inventarquellen werden dabei sozusagen neu sortiert, sodass beispielsweise Transporte von Lebensmitteln der Kategorie Ernährung zugeordnet werden, genauso wie der Energieverbrauch für Prozesse und Produktion. Die Datenbasis wird dabei deutlich erweitert, allerdings trifft dies nicht zwangsweise auf die Datensicherheit zu. So weist der letzte IPCC-Sachstandsbericht in der deutschen Zusammenfassung auch ausdrücklich darauf hin, dass es sich bei der ausgewiesenen Spanne von 21 bis 37 t für den Anteil der gesamten Ernährung an den globalen Treibhausgasemissionen um eine Schätzung handelt und „Diese Emissionsdaten nicht direkt mit den nationalen Inventaren vergleichbar [sind], die nach den IPCC-Richtlinien für nationale Treibhausgasinventare von 2006 erstellt wurden.“
Der weltweite Beitrag tierischer Lebensmittel liegt laut FAO bei 14,5 % (insgesamt 7,1 Gt CO2-Äquivalente, wobei Vorleistungen vor und nach der Erzeugung einbezogen sind, jedoch nicht die Stufe des Konsums). Der Anteil der Milch und Milchprodukte liegt mit 1,4 Gt absolut gesehen entsprechend bei 2,9 % der weltweiten Emissionen (Gerber et al., 2013). Dies entspricht in etwa dem Anteil des weltweiten Klimabeitrages des gesamten Flugverkehrs und liegt unterhalb des Klimabeitrages der Zementherstellung, des Internetbetriebes oder der Textilindustrie, die jeweils mit rund 5 % oder mehr zu Buche schlagen.
In Deutschland liegt laut dem Ökobilanz-Modell vom Acker bis zum Teller des Thünen-Instituts von 2019 die gesamte Ernährung einschließlich Verzehr mit 177 Mio. t im Bezugsjahr 2010 anteilig bei 18,7 % der gesamten deutschen Emissionen. Davon wären 54 % den tierischen Lebensmitteln zuzuordnen. Der Anteil von Milch und Milchprodukten dabei ist mit 22 Mio. t anzusetzen oder bezogen auf die gesamten deutschen Emissionen mit einem Anteil von 2,4 %. Zum Vergleich: Getreide und Getreideprodukte zum menschlichen Verzehr tragen im gleichen Maßstab zum deutschen CO2-Klimabudget bei.
Analyse der gesamten Wertschöpfungskette wichtig
Die Analyse des Thünen-Instituts wird als „Hybrid-LCA-Modell“ bezeichnet, da es Quellenanalysen mit Verbrauchsanalysen bzw. Lebenszyklusanalysen (LCA, Life-Cycle-Assessment) kombiniert. Auf diese Art und Weise lassen sich neben der verbrauchs- oder verzehrsbezogenen Analyse der gesamten Wertschöpfungskette und angrenzender Sektoren auch produktbezogene Aussagen treffen, die sich meistens auf die Einheit CO2-Äquivalente pro Kilogramm Produkt beziehen. Gegebenenfalls können auch Bezüge auf Kilogramm Protein oder auf 1.000 cal hergestellt werden. Je nach Darstellungsweise lassen sich so auch unterschiedliche Aussagen oder Botschaften ableiten. International hat nach einem ähnlichen Ansatz 2019 die Publikation von Poore und Nemecek von der Universität Oxford für Aufsehen gesorgt, die mit 38.700 Klimainventaren aus 119 Ländern nach der Systematik des IPCC sowie LCAs ausgewertet hat. In der Publikation der Daten im anerkannten Wissenschaftsjournal Science wurde zum Beispiel Kuhmilch bezogen auf einen Liter in den Vergleich zur Klimawirksamkeit von einem Liter Soja-Drink (in der Publikation als „Soymilk“ bezeichnet) bilanziert, was im medianen Mittel mit 2,7 zu 0,9 kg CO2-Äquivalenten mehr als eine doppelt so hohe CO2-Bilanz nach sich zieht. Dass es sich bei einem Soja-Drink um ein verarbeitetes, unnatürliches und vergleichsweise nährstoffarmes Produkt handelt, wird bei dieser Darstellung vernachlässigt. Bei Vergleich von einem Kilogramm Tofu mit der Klimawirksamkeit von Milch in derselben Studie, liegt Tofu mit 2,6 kg CO2-Äquivalenten fast gleichauf. Hafermehl hat pro kg einen CO2-Beitrag in Höhe von ebenfalls 2,6 kg, für Roggen- und Weizenbrot werden 1,3 kg angesetzt. Es kommt also maßgeblich auf die Verdichtung des Rohstoffeinsatzes an, sodass ein Molkereiprodukt wie Käse bereits auf eine Klimawirksamkeit von 18,6 kg CO2-Äquivalente pro Kilogramm Produkt kommt. Anzumerken ist zusätzlich, dass die Bilanzierungen erheblichen Schwankungen unterliegen, insbesondere bei tierischen Lebensmitteln sind die regionspezifischen Schwankungen erheblich. So sind die Klimabeiträge der Milch und Milchprodukte in Westeuropa auch laut Gerber et al. (2013) deutlich geringer als zum Beispiel im asiatischen Raum.
In dem bereits vorgestellten Thünen-Modell wurden für den deutschen Ernährungssektor in 12 Produktgruppen teilweise über 100.000 Stoff-, Energie- und Emissionsströme modelliert, was ebenfalls auch eine auf das Kilogramm Lebensmittel bezogene Bewertung der Klimawirksamkeit zulässt. Ein Kilogramm Milch und Milchprodukte schlägt in Deutschland demnach im medianen Mittel mit 3,6 kg CO2-Äquivalenten zu Buche, während Getreide und Getreideprodukte einen Beitrag von 2,8 und Kartoffeln von 3,2 leisten. Die unterschiedliche Dimension im Vergleich zur Publikation von Poore und Nemecek ist auf die Datengrundlage und Modellierung zurückzuführen, jedoch erwies sich das Thünen-Modell im Vergleich zu ähnlichen Ansätzen für den deutschen Ernährungssektor als ausreichend robust. Für die ökoeffiziente Optimierung von Prozessketten sind derartige Datensätze gut geeignet und wertvoll. Was aber lässt sich für konkrete Ernährungsempfehlungen nutzen, zumal diverse Zahlen je nach Kommunikationsziel in den Raum geworfen werden und nicht selten dazu dienen, tierischen Lebensmitteln einen zerstörerischen Charakter im Sinne des Klimawandels zu unterstellen?
Eine Ernährungsempfehlung für Deutschland
Wie bereits eingangs aufgezeigt, existiert mit der sogenannten Planeten-Ernährung eine Empfehlung für eine Ernährungsweise, die Gesundheit und Umwelt schützt. Alleine eine Anpassung des Ernährungsstils gemäß den Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung im Vergleich zum tatsächlichen Verzehr, würde bedeuten, dass sich zwar die Klimawirksamkeit des Fleischverzehrs um 35 % reduziert, ebenso wie der Beitrag des Getränkeverzehrs um 30 %, des Zucker/Süßwaren-Verzehrs um 62 % und der sonstiger nicht näher beschriebener Lebensmittel sogar um 89 %. Allerdings würde sich gemäß der DGE-Empfehlung die Verzehrsmenge im Vergleich zum tatsächlichen Verzehr bei Fisch, Eiern, Milch und Milchprodukten, Getreide und Getreideprodukten, Kartoffeln, Gemüse, Obst, Ölen und Fetten erhöhen müssen und damit die Klimawirksamkeit des gesamten Verzehrs, sodass sich sogar eine Erhöhung der Emissionen um insgesamt 11 % ergäbe (siehe Abbildung 1), wie das Thünen-Modell zeigt.
Was wäre nun also ratsam?
Eine Berechnung der aus dem Thünen-Modell bekannten CO2-Äquivalente für die im Verzehr erfassten Lebensmittelgruppen ergibt zwei klare Modifikationen, die zu einer wirksamen Reduktion führen würden. Zunächst müssten die in der Verzehrsstatistik erfassten Getränke auf vorrangig Wasser oder kalorienfreie Getränke auf Wasserbasis umgestellt werden, da andersartige Getränke in der Planeten-Ernährung nicht vorkommen. Einen deutlichen Überschuss liefert zudem auch noch der Fleischverzehr, der auf 300 g pro Woche maximal begrenzt werden müsste (siehe Abbildung 2). Unter diesen Umständen ergäbe das momentan erfasste Verzehrmuster in der deutschen Bevölkerung einen Klimabeitrag von etwa 1,6 t CO2-Äquivalenten pro Jahr und Person, was dem Beitrag der Planeten-Ernährung nahezu entspräche. Der CO2-Fußabdruck der aktuellen Ernährung wird durch diverse Berechnungswege (zum Beispiel Umweltbundesamt) mit 1,8 t pro Jahr und Person angegeben. Bei Anwendung der Thünen-Modell-Bezüge pro kg Lebensmittel auf das aktuelle Verzehrsmuster inklusive Getränke muss jedoch eher von einem CO2-Fußabdruck in Höhe von 2,6 t pro Jahr und Person ausgegangen werden.
Zusammengefasst ist also festzuhalten, dass eine gesundheits- und klimaverträgliche Ernährung unter den derzeitigen Verzehrsgewohnheiten mit gezielten Anpassungen ohne weiteres möglich ist. Hingegen sind einzelfallbezogene Vergleiche von Lebensmitteln nicht geeignet, um die Klimawirksamkeit eines Ernährungsstils zu bewerten, sondern es müssen immer regionale und kulturelle Aspekte der Ernährungswirtschaft berücksichtigt werden. Für in Deutschland erzeugte Milch und Milchprodukte kann unter dieser Betrachtung mit Sicherheit festgestellt werden, dass weder Milch noch Milchprodukte als Klimakiller Nr. 1 bezeichnet werden können, sondern Bestandteil einer ausgewogenen und nahrhaften Ernährung sind.